Stiftung Wahrheit in den Medien

SYMPOSIUM (Gratis-) Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems?

Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing




Dr. Marlis Prinzing

• Kein Urknall: Die Schöpfungsgeschichte der Gratis-Pendlerpresse
• Sechs Gründe, weshalb die Verhältnisse in der Schweiz in gewisser Hinsicht himmlisch wurden
• Ein Fluch? Risiken durch die Gratiszeitungen
• Ein Segen? Chancen durch die Gratiszeitungen
• Ein Fazit




I. Kein Urknall: Die Schöpfungsgeschichte der Gratis-Pendlerpresse

Die Pendlerpresse scheint uns zu überschwemmen, wir sind versucht, uns einem ganz neuen Phänomen gegenüber zu sehen, ja, vielleicht sogar ausgeliefert. Ein Phänomen, dessen Geburt gerne an den Erfolg des Gratisblatts „Metro“ geknüpft wird, das 1995 von Schweden aus viele lokale Märkte dieser Welt eroberte. Und ein Phänomen, das fast über Nacht die Schweiz ergriff, während das Nachbarland Deutschland geradezu „verschont“ scheint…

Tatsächlich ist es anders. Es gab keinen Urknall, durch den ganz plötzlich eine neue globale Zeitungswelt entstand. Manches gab es schon längst, anderes hingegen ist schlicht anders geworden, einiges ist neu.

Gratiszeitungen gibt es seit mehr als einem Jahrhundert, die erste weltweit war der „Manly Daily“ 1906 in Australien. Ihn gibt es heute noch. Er gehört nun zu Rupert Murdochs News Corporation. In den USA geht der Siegeszug der Gratistagespresse zurück in die 40er Jahre, in Spanien begann er bereits Anfang der 90er Jahre. Auch mit dem öffentlichen Nahverkehr als Vertriebsweg für Gratisblätter wurde bereits experimentiert.

Neu ist, dass Gratistageszeitung (GTZ) in direkte Konkurrenz treten zur Kauftageszeitung. Neu ist ferner die Vehemenz, mit der sie den Markt überschwemmen.

Neu ist auch: ein Teil der Gratispendlerpresse verfolgt ein globales Konzept. Das kann beitragen, „nationale Leserschaften“ in einer globalen Welt zu verbinden. Als Beispiel mag ein Fotowettbewerb gelten, den das Gratisblatt „Metro“ weltweit für die Leserschaft ihrer 70 Ausgaben in 23 Ländern veranstaltete; das Siegerbild ist aus Kanada.

Dies allerdings wird Grenzen haben, wie uns die aktuelle Mediensystemforschung lehrt : Solange ein Konzept im Grunde nicht national spezifiziert ist, sondern weltweit leicht konsumierbare News anbietet, wird es sich handeln lassen wie fast jede andere Ware. Je profilierter hier Journalismus betrieben wird, desto mehr dürften die nationalen Kulturen Unterschiede wieder zum Tragen kommen – und damit die alten, traditionellen Bindungen.

Alt sind auch die Klagen. Nach Fernsehen und Onlinemedien und Blogs sind nun gegenwärtig GTZ diejenigen, die man beschuldigt, die guten alten Zeitungen zu verdrängen…

Sicher ist: der Markt der Gratispresse ist in Bewegung und durchaus lebendig. Der Kommunikationswissenschaftler Piet Bakker sammelt in seinem Blog www.newspaperinnovation.com internationale Veränderungen, anhand derer man die Vitalität dieses Marktes verfolgen kann.

Und speziell ist sicherlich der Erfolg, den die Gratispresse in der Schweiz hat. Ob zum Segen oder zum Fluch, das soll hier Thema sein.

Doch bin ich weder Theologin noch Prophetin - so werde ich allenfalls Annäherungen bieten können, die jedoch weder frohlocken lassen werden noch irgendeinen ins Fegefeuer schicken… - es bleibt mir, ein paar Fakten zu vermitteln sowie ein paar Annäherungen an eine Einschätzung und eine Prognose.

II. Sechs Gründe, weshalb die Verhältnisse in der Schweiz in gewisser Hinsicht himmlisch wurden.

Zunächst folgt jetzt eine Beschreibung der Situation – zuerst der Situation in der Schweiz. Der Fokus richtet sich vor allen Dingen auf die Deutschschweiz – mit Ausblick in die Westschweiz. Dann wird diese in Bezug gesetzt zu den Anfängen und der Entwicklung in Europa. Darauf folgt die Analyse von Gründen für die Gratispresse-Geschichte in der Schweiz.

  • 1,6 Millionen Exemplare pro Tag - nirgendwo in Europa werden gegenwärtig mehr Gratistageszeitungen pro Kopf gedruckt als in der Deutschschweiz.
  • Die Tamedia zählte täglich in einem Auflagenvergleich, den sie für ihre Bilanzmedienkonferenz 2008 erstellte, ein Exemplar für jeden zweiten Einwohner über 14 Jahren.
  • Der Marktanteil der Gratispresse in der Schweiz wird gegenwärtig auf 45 Prozent geschätzt.
  • Es gibt zurzeit sieben Pendler-Tageszeitungen: „20 Minuten“ (1999), „Baslerstab“ (2000), „Le Matin Bleu“(2005), „Heute“ (2006) - 2008 vom Markt genommen und durch „Blick am Abend“ ersetzt, „Cashdaily“ (2006, Wirtschaft), „.ch“ (2007), „News“ (2007).
  • Leserzahlen: 1,296 Millionen („20 Minuten“, fünf Ausgaben); 470 000 (20 Minutes“); 524 000 (Le Matin Bleu); 291 000 („Blick am Abend), 283 000 „News“, 204 000 .ch, 112 000 (Cash daily).
  • Bewegung gibt es auch im Markt der Gratis-Wochenzeitungen. Hier tummeln sich alte Hasen wie das „Migros-Magazin“ und die „Coop-Zeitung , sowie junge Rehe: Filippo Leutenegger brachte vor knapp einem Jahr „Neue Ideen“ auf den Markt, ein Fachblatt für alles rund ums Wohnen, das ein Mischkonzept pflegt und auf Mitgliedschaften setzt. Seit Oktober gibt es von der Tamedia ein neues People-Magazin, „Friday“; es tritt an die Stelle von „Week“, das zu Jahresende eingestellt wird. Auch im „Special Interest“-Bereich ist Gratis im Trend: Im Frühjahr 2008 kam „Ladies Drive“ auf den Markt, nach eigenen Angaben Europas erste Autozeitschrift für Frauen, gratis zu haben zum Beispiel bei den Garagisten….

In Europa erschienen im März 2008 insgesamt 130 Gratisblatt-Titel, mehr als 300 Ausgaben breiten sich aus über Europa. In Island, Dänemark, Spanien und Portugal überholten die Auflagen der Gratisblätter in der Summe die der Kaufzeitungen. In einem Dutzend europäischer Länder sind Gratisblätter die auflagenstärksten auf dem nationalen Markt.

Ausserhalb Europas sind vor allem Singapur, Hong Kong, Israel, Botswana, die Dominikanische Republik, Kanada und Chile starke Märkte. Im April 2008 gab es in fast allen europäischen Ländern, in den USA, in Kanada, Südamerika, Australien, Asien und Afrika – insgesamt in 56 Ländern weltweit - insgesamt 44 Millionen Exemplare pro Tag und 80 Millionen Leser.

Dieser Siegeszug, diese Vehemenz, mit der Gratis plötzlich allüberall in der Welt Anklang zu finden scheint, klingt wie ein Märchen. Ist es überhaupt eines? Bevor sich darüber nachdenken lässt, müssen wir zunächst fragen: Wie fing das alles an? Wie begann dieses märchenhaft anmutende Kapitel in der Geschichte der Gratispresse?

Es war einmal in Stockholm. Man schrieb das Jahr 1973. Ein junger, recht aufmüpfiger Mann sass damals in einer Journalistenschule und horchte auf: Aha, ein Drittel der Einnahmen einer Zeitung kommt aus den Abonnements, ein Drittel kostet der Vertrieb – macht unterm Strich Null! Das passte ja ideal. Ideal jedenfalls zu den Ideen, die ihm sonst so gefielen und die damals en vogue waren in der linken Szene: Man schätzte dort Mao und mochte die Vorstellung, allen Leuten Gratis-U-Bahnfahren anzubieten. Was passte besser, als dann auch noch eine Gratis-Zeitung dazu zu lesen! Bildung für alle zum Nulltarif! Logisch. Logisch für einen wie Anderson.

Doch so schnell geht das alles auch im Märchen nicht. Anderson wurde Journalist, Unternehmer und Zeitungsdesigner, er wurde älter und erfolgreich und noch erfolgreicher… Doch seine Idee aus jungen Jahren, die vergass er nicht. Anfang der 90er Jahre hatte er ein Konzept, das man nur noch startklar machen musste, doch noch immer keinen, der das Geld gab. Auch die Betreiber öffentlicher Verkehrsbetriebe zogen noch nicht mit. Da begegnete Andersen eines schönen Tages einem Unternehmer, der den Daumen hob: Jan Stenbeck war bereit, das Gratispresseprojekt Metro über den innovativ orientierten Zweig seiner Modern Times Group zu finanzieren. Nun ging alles voran: Als 1994 das Kapital bereit lag, öffneten sich auch die Türen für die Sicherstellung des Vertriebswegs über den öffentlichen Verkehr in Stockholm. 1995 kam die erste Ausgabe des Gratispendlerblatts „Metro“ auf den Markt - neun Monate später war Gleichstand zwischen Einnahmen und Ausgaben erreicht, ein Jahr später war „Metro“ nach Auflage die zweitgrösste Zeitung in Schweden.

Dieser Erfolg rief Nachahmer auf den Plan, erhitzte die Gemüter und machte „Gratis“ zum Zauberwort: In Europa wuchs die Auflage der Gratispresse in Höchstgeschwindigkeit und kontinuierlich: Sie verdoppelte sich zum Beispiel von 2000 auf 2004 auf 11 Millionen Exemplare, zwei Jahre später waren es 26 Millionen, im März 2008 dann 28 Millionen. Geradezu eine Auflagen-Explosion in Europa lässt sich im Jahr 2006 verzeichnen: 68 Prozent mehr Gratispendlerblätter als im Vorjahr, regneten auf Europa. 2007 stieg die Auflage um weitere 13 Prozent.

„Metro“ setzte auf ein Konzept, das sich mühelos auf viele Länder übertragen liess, schaute für die Einführungsphase nach Leuten mit hervorragenden internationalen Kontakten und danach nach einem jungen, engagierten Manager, dem sie ihr Dossier dann geben konnten. So war das zunächst auch in der Schweiz, wo man sich z.B. den Zürcher Komponisten und Dirigenten Joel Spielmann als Mann vor Ort geangelt hatte.

Doch die Schweden hatten viele Eisen im Feuer und wollten möglichst gleichzeitig an vielen Orten investieren; die Schweiz war für sie nur einer unter vielen. Und sie waren nicht die einzigen: Im Nachbarland Norwegen war unter dem Dach des Traditionshauses Schibsted ebenfalls ein erfolgreiches Gratis-Presse-Projekt entstanden: „20 Minuten“.

In der Schweiz kam dann eben noch eine ganz besondere Situation hinzu. Sechs Kernpunkte:

1. Vier Männer mit Pioniergeist und Beziehungen erkennen die Sprengkraft der Idee “Gratis-Pendlerpresse” in der Schweiz. Sie wollen rasch handeln - und verdienen.
Zwei Schweizer - der Ex-Blick-Chef Sacha Wigdorovits und der PR-Mann Klaus J. Stöhlker - , der deutsche Logistiker Folker Flasse und der schwedische (!) Diplomat Ove Joansson waren längst in den Startlöchern. Sie wollten endlich auf den Markt. Doch aus Schweden kam und kam kein grünes Licht. Offenbar beanspruchte die Macher dort ihr Erfolg und die damit verbundenen Aufgaben und Neuabsteckungen von Pfründen zu sehr als dass sie noch die Schweiz im Blick behielten…

Joansson klopfte bei Schibsted an, die ja, genauso wie Metro, so gut wie möglich vom Internetboom an der Börse und vom globalen Mediengeschäft profitieren wollten. Er brachte frohe Kunde aus Norwegen: Schibsted war, anders als Metro entscheidungsbereit, sobald das finanzielle Risiko abgesichert war. Wigdorovits brachte den notwendigen Geldgeber: Bankier Ernst Müller-Möhl übernahm vorübergehend 45 % an „20 Minuten“ und sicherte damit den Deal. Im Jahr 1999 wurde das Zeitungsprojekt startklar. Die vier Gründungsväter ersannen ein Konzept, das anders als Metro nicht nur global kompatibel, sondern zugleich auch lokal verankert sein sollte. Und sie hatten einen Plan B für alle Fälle (die dann auch eintrafen): Handvertrieb mit 200 Leuten in der Hinterhand als Ersatzplan (das wurde dann nötig, weil Metro kurzerhand einen Vertriebsvertrag mit der SBB schloss, als sie erfuhren, dass man in Zürich nun wohl rasch voran machte); Gratisanzeigen als Einführungsangebot; eine Redaktion, die noch Baustelle war, aber handlungsbereit, - und als Überraschungseffekt den um ein paar Wochen vorgezogenen Start am 13. Dezember 1999.

Übrigens: Pendlerzeitungspläne lagen schon vorher in Schweizer Luft : 1990 dachte die „ZüriWoche“ über eine kostenlose Abendzeitung entlang der S-Bahn nach, das war jedoch technisch nicht hinzukriegen. 1996, direkt im Sog des Stockholmer Erfolgsprojekts, entwickelte Wigdorovits eine GTZ nach schwedischem Vorbild im Auftrag von Ringier, wo man zugleich Fühler zur Neuen Zürcher Zeitung ausstreckte. Die Verlagsleute waren zumindest bereit zum Sprung ins kalte Wasser, liessen es dann aber, weil aus den Redaktionen Protest kam und weil man fürchtete, dem „Blick“ zu schaden.

2. Andere – v.a. eingesessene Verlagsmanager, unterschätzen diese Sprengkraft. Die NZZ scheute den Alleingang, die Tamedia winkte ab, in der Ringier-Geschäftsleitung setzte der Zauderer gegen den Mutigen durch.

3. Die Schweiz bietet günstige Bedingungen für ein Pendlerblatt – bis heute: Tendenz. Steigend. Die SBB beispielsweise beförderte 2007 über 306 Millionen Passagiere, 7,6 Prozent mehr als 2006; gleichzeitig wird Benzin teurer…

4. Die Schweiz ist ein Zeitungsland. Und heutzutage ein Gratiszeitungsland – das bestätigen die Angaben von WEMF und Machbasic zu Reichweite und Auflage. Auf einen Nenner gebracht: Gratis legt zu – Kauf stagniert.

5. Verleger erkennen in der Gratispresse - später - auch strategische Werkzeuge. Zwei Beispiele „Express“ und „News“ ( ein weiteres Beispiel, auf das ich aber nicht noch näher eingehe, ist „Le Matin Bleu“).
2003 wurde aus dem „Zürcher Stadtanzeiger“ das Gratisblatt „Express“ entwickelt. Der CEO der Tamedia, Martin Kall, wollte auf diese Weise seinem Interesse, Schibsted-Anteile für die Tamedia zu kaufen, Nachdruck geben. Und er wollte gegebenenfalls sofort eine Alternative parat haben. Am Tag der Eröffnungsparty von „Express“ fiel der Entscheid. Kall erhielt das Okay der Norweger und des Investors. Ohne zu zögern liess er „Express“ absagen – es gab nicht eine Ausgabe, die Journalistinnen und Journalisten waren in Nullkommanichts arbeitslos. Für die Tamedia war dies ein segensreicher Entscheid. Ab 2005 wurde mit „20 Minuten“ verdient, 2007 erzielte „20 Minuten“ nach unbestätigten Angaben 115 Millionen CHF Umsatz und gilt als eine der – zumindest zeitweise – rentabelsten Zeitungen der Welt.

„News“, die zweite strategische Gründung auch aus Warte der Tamedia, wird finanziert aus dem Erlös für „20 Minuten“. Sie folgt einem Konzept multipler Abgrenzung:
- gegenüber 20 Minuten: weniger Unterhaltung;
- gegenüber .ch: keine Kolumnen, weniger Style;
- gegenüber dem Tages-Anzeiger: nur Inhaltsverzeichnis, kein „Best-of“ und keine eigenen Recherchegeschichten.
Alleinstellungsmerkmal sollen Nachrichten und Kommentare sein.

„News“ will also:
• .ch abwehren, das als Qualitäts-Gratiszeitung angetreten ist. Denn die Zielauflage 500 000 von .ch hätte den Tages-Anzeiger auflagenmässig auf den dritten Platz zurückfallen lassen (nach „20 Minuten“).
• Die Basler Zeitung umarmen. Das gemeinsame Gratis-Boot könnte die Voraussetzung werden, dass nach der Berner Zeitung auch die Basler Zeitung zum – in Anführungszeichen – Zürcher wird…
• Einen Gratis-Titels der AZ-Medien abwehren.

6. Die Schweizer Gratiszeitungen sind bzw. waren eben kein „more of the same“, sondern haben verschiedenartige Konzepte. Das spricht auch verschiedene Zielgruppen an: „20 minuten“ und das neue „.ch“ sind people- und serviceorientiert, das alte .ch und news sind meinungsoffen. .ch und news sind zudem keine von vornherein global orientierten Blätter, sondern sie basieren auf regional bzw. national orientierten Konzepten.

Abschliessend an dieser Stelle nochmals ein Blick auf Europa im Jahr 2008. Die Farben markieren den Anteil der Gratispresse in den einzelnen Ländern an der Gesamt-Print-Auflage. Auf eines sei noch besonders hingewiesen: Deutschland ist grau. Das bedeutet, der Marktanteil der Gratispresse liegt unter 10 Prozent (und in der Schweiz – siehe vorne – bei 45 Prozent).




Quelle: www.newspaperinnovation.com/index.php/europe/ (1.12.2008).

Das erklärt sich vor allen Dingen aus der ganz anderen Haltung der Verleger. Als Schibsted 1999 in Deutschland Fuss fassen wollte und in Köln „20 Minuten“ lancierte, nahmen die Kaufzeitungsverlage DuMont und Axel Springer das nicht gelassen hin, sondern fühlten sich angegriffen und konterten: Sie gaben ein Konkurrenzblatt heraus und zogen gegen Schibsted vor Gericht. Die Norweger zogen sich nach zwei Jahren zurück, die Kölner Konkurrenzblätter wurden darauf hin sofort eingestellt. Weitere zwei Jahre später entschied der Bundesgerichtshof gegen die deutschen Verleger, in dem er befand, Gratiszeitungen seien wettbewerbsrechtlich nicht bedenklich und im Sinne der Pressefreiheit folglich zulässig. Doch da war die Schlacht geschlagen.

Es gibt noch andere Unterschiede zwischen der deutschen und der Schweizer Situation, zum Beispiel auch die verschiedenartigen Pendlerströme. Doch die Abwehrhaltung grosser deutscher Verlagshäuser ist sicher ein Hauptgrund dafür, dass die Gratispresse dort nie wirklich Fuss fasste. Und es ist unwahrscheinlich, dass das noch anders wird, obwohl es ja laut Gerichtsentscheid formal möglich wäre und obwohl es immer wieder Überlegungen dazu gibt . Aber zwischenzeitlich haben sich die konjunkturellen Voraussetzungen verändert, die Gewinnerwartungen auch durch das Internet und manches mehr…

II. Ein Fluch? Risiken durch die GTZ

• 1. GTZ können zum ökonomischen Abenteuer werden.

• 2. GTZ können journalistische Inhalte verwässern - bis hin zum publizistischen Fluch für die Demokratie.

• 3. GTZ können zum Werbe-Knebel werden.

• 4. Der psychologische Preis für “Gratis”

• 5. Der ökologische Preis für “Gratis”

• 6. Die junge Generation - trügerische Hoffnungsträger

1. GTZ können zum ökonomischen Abenteuer werden.
Wirtschaftlich hat die Gratispresse ihren Zenit überschritten, im Ausland schreibt sie bereits rote Zahlen. Kommunikationsforscher Piet Bakker rechnet zusammen . Ein Viertel der Gratisblätter ist bereits pleite, von den verbliebenen 320 Titeln sind 70 Prozent in den roten Zahlen. Die gegenwärtige Konjunktur- und Finanzkrise wird diesen Trend beschleunigen. Ursache sind die teils schlicht übersättigten Märkte.

Der Erfolgstitel „Metro“ erreichte – global gerechnet - mit rund 70 Ausgaben zwar 23 Millionen Leser in 23 Ländern (und 19 Sprachen), konnte aber lediglich den Verlust von zwei auf einstellige Zahlen reduzieren. Im zweiten Quartal 2008 erreichte das Anzeigengeschäft einen Tiefpunkt. CEO Per Mikael Jensen begründet gegenüber der Süddeutschen Zeitung die Verluste mit Investitionen in das Wachstum. Er will seine Marke, ähnlich wie bei der Kaffeehaus-Kette Starbucks, nun auch anderen Verlagshäusern überlassen. Er träumt noch immer vom deutschen Markt. Und er setzt nun auf Konsolidierung: Blätter, die rentieren, bleiben, die anderen werden vom Markt genommen. Zum Beispiel Spanien. Dort schlossen z.B. Ende November drei Ausgaben (Baskenland, Galizien, Aragon). Hinzu kommen strategische Bündnisse: Schibsted erwarb im Mai dieses Jahres ein 35 %- Aktienpaket an „Metro“…

Auch andere Gratiszeitungsverlage bereinigen ihre Bilanzen und beenden das Abenteuer. Das spanische Gratisblatt Qué! nahm die Ausgaben in A Coruña, Bilbao, Mallorca und Murcia vom Markt, der Verleger ersuchte den Arbeitsminister um finanzielle Unterstützung für 106 entlassene Angestellte. Im Oktober wurde die niederländische Gratiszeitung Dag als Printausgabe eingestellt. Sie geht komplett ins Internet, Begründung: zu wenig Anzeigenkunden – und zu wenig treue Anzeigenkunden. Im September erschien die letzte Ausgabe der dänischen Gratis-Tageszeitung Nyhedsavisen. Grund: fehlende Anzeigen, ökonomische Krise. Einen anderen Weg geht das 2005 lancierte Blatt „Blufton Today“ in den USA. Es stellte zum 1. Dezember um von Gratis auf Bezahlzeitung.

Konzepte zur Differenzierung und Segmentierung halten den einen oder anderen über Wasser. Manche setzen auf andere Zeitfenster – in der Schweiz etwa „Blick am Abend“. Oder auf eine Distributionskombination – „.ch“ zum Beispiel wurde frei Haus und in der Box aufgelegt. Oder auf Hybride: Die Zeitung „Österreich“ gibt es zu kaufen und als Gratisversion; in gewisser Weise gehört auch „Le Temps“ dazu: Hier gibt es eine Gratis-Onlineversion und eine Kauf-Printversion. Weitere Alternative bietet die Sparte: „Cash Daily“ für Wirtschaftsinteressierte oder auch die Gratis-Wohnzeitschrift „Neue Ideen“ sind hier Beispiele.

Sicher ist: Garant für eine fette cashcow ist das Modell „Gratis“ nicht mehr, sondern es bewirkt – nun ja – Anpassungsstrategien; zum Beispiel in der Schweiz. Das sind Strategien, deren tatsächliche Ziele aufhorchen lassen und von denen manche noch dazu teils im Nebel liegen.

1. Im Juni 2008 blies Peter Wanner für die Aargauer AZ Medien AG vorerst sein Vorhaben ab, als Antwort auf „.ch“ und „News“ in ihrem Stammgebiet eine eigene Gratiszeitung zu lancieren, was er ein halbes Jahr zuvor noch mit Vehemenz vorangetrieben hatte. Nun hiess es, man warte die konjunkturelle Entwicklung und das weitere Geschehen auf dem Gratismarkt, ehe man investiere. Zwischenzeitlich zeigt sich: Sein Projekt war auch gar nicht mehr nötig: Die Tamedia stellt am 8. Dezember 2008 die Mittelland-Ausgabe von „News" ein. Der Werbemarkt brauche das nicht.

2. Allerdings: Die drei „News“-Regionalausgaben "News Basler Zeitung", "News Berner Zeitung" und "News Tages-Anzeiger" bleiben. Tages-Anzeiger Chefredaktor Peter Hartmeier erklärte , zwar fühle man seit dem Relaunch von „.ch“ von dieser Seite her auch nicht mehr den Druck wie zuvor, gehe aber noch nicht ganz vom Markt. Der Basler wegen? Das blieb unbeantwortet.

Die Fortsetzung dieses Abenteuers wird finanziert aus dem Erlös von „20 Minuten“. Gleichzeitig hingegen kündigt das Medienhaus einen weiteren Sparkurs für das Kaufblatt „Tages-Anzeiger“ an und einen Relaunch: Eine Gruppe führender Journalisten aus verschiedenen Unternehmensbereichen – „News“, „Newsnetz“ und „Tages-Anzeiger“ – werde unter der Oberhoheit der Verlagsmanager den „Tages-Anzeiger“ – Zitat - „neu erfinden“.

3. Im Oktober 2008 stieg Sacha Wigdorovits aus seinem Projekt „.ch“ aus und machte den Weg frei für ein Konzept, das sich an das von „20 Minuten“ anlehnt. Die Financiers stockten dafür das Aktienkapital um 8 Millionen CHF auf 18 Millionen CHF auf. Sie bezahlen damit die Abkehr vom bisherigen Konzept einer Qualitätsgratiszeitung hin zu einer, die ähnlich sein will wie eine Gratiszeitung, die bereits auf dem Markt ist, sowie für die ausdrückliche Hinwendung zu quantitativen Erfolgen und sie wollen einen Ausgleich schaffen für den bis dahin – laut Verwaltungsrat Ernst Buob – entstandenen „Glaubwürdigkeitsverlust bei Kunden und Werbern“. Die Glaubwürdigkeit bei der Leserschaft scheint kein Thema…

2. GTZ können journalistische Inhalte verwässern - bis hin zum publizistischen Fluch für die Demokratie
Die meisten Gratisblätter enthalten weniger Inhalt als Kaufzeitungen und mehr Leichtverdauliches, Personality-und Service-Orientiertes. Sie erscheinen nur von Montag bis Freitag, weil es am Wochenende wenig Pendler gibt. Manche erwägen aus wirtschaftlichen Gründen eine Sommerpause. In der Schweiz überlegen das z.B: „Le Matin Bleu“ und „.ch“.

GTZ kommen durch ihr „Soft news“-Konzept mit weniger Personal aus und setzen personnell auf (günstigere) jüngere Kolleginnen und Kollegen. Nur ein Vergleich: Im Jahr 2006 arbeiteten für 70 „Metro“-Ausgaben 500 Journalisten in 20 Ländern – im Schnitt also 25 pro Land, 7 pro Ausgabe. In der „Neuen Zürcher Zeitung“-Redaktion arbeiteten hingegen 2007 knapp 200, im „Tages-Anzeiger“ 150, bei der „SDA“ knapp 150 und beim „Blick“ rund 150 Leute…

Der Erfolg bei der Leserschaft beruht auf einer speziellen Qualität, erläutert Metro-Chef Jensen: „Metro“ sei gut, weil es, anders als klassische Verlagshäuser, Journalismus ohne Meinung biete. „Wir müssen uns nicht um Fragen kümmern wie: Was denken wir über den Irak-Krieg? Denn darüber denken wir gar nichts, wir haben keine politische Meinung“ . Laurenz Looser, Inlandchef von „20 Minuten“ Schweiz, bestätigte dies . Er weiss sich des Beifalls des Schweizer Medienministers gewiss.

Bundesrat Moritz Leuenberger rühmte solcherlei Journalismus bei der Eröffnung der Generalversammlung der europäischen Zeitungsverleger im November vergangenen Jahres in Zürich: „Gratiszeitungen spitzen weniger zu, fahren (vorläufig) keine Kampagnen, sie machen niemanden fertig. Offenbar gibt es viele Leute, die genug haben vom ständigen Krawalljournalismus, von den ewigen Personalisierungen, der krampfhaften Suche nach dem Skandal hinter den Fakten und von Thesenjournalismus. Die Nüchternheit der Gratiszeitungen kommt auf jeden Fall an.“

Eine mögliche Position. Allerdings zugleich eine bemerkenswerte Position für den Chef u.a. des Mediendepartements in einer direkten Demokratie, der Intellektualität schätzt. Eine Position, die jedoch dann zum Fluch wird, wenn daraus ein Selektionskriterium wird und sich immer öfter nur noch allenfalls meinungsarmer Journalismus anbieten und finanzieren lässt. Journalismus - ob gratis oder gegen Geld angeboten - gerät zur Bankrott-Erklärung für eine Demokratie, wenn er grundsätzlich nicht nur rentieren muss, sondern noch dazu gemessen wird an der Höhe seiner Rendite.

Journalismus, der nur noch Service sein soll, ist eine Möglichkeit innerhalb einer Demokratie – solange es die Vielfalt anderer Medien gibt. Ähnliches gilt für Redaktionen, die es zu ihrer Kultur zählen, Meinung anderen zu überlassen. Kritisch wird es hingegen, wenn es nur noch diese Art von Journalismus gibt (oder wenn sie, zum Beispiel von einem Medienminister, geradezu empfohlen wird).

3. Die Werbung: Zwischen Verzagtheit und Knebel
Im Idealfall finanzieren sich Gratisblätter aus Anzeigenerlösen und stützen noch andere Produkte eines Verlags. Trotz Prognosen mit zweistelligen Zuwachsraten, bleiben die üblichen Risiken. Im Durchschnitt benötigen die meisten Startups vier bis fünf Jahre, um zum Break Even zu gelangen. Ausserdem wachsen Abhängigkeiten, Komplexitäten – und Zurückhaltung.
Schweizer Mediaplaner hielten z.B. „Heute“ und nun „Blick am Abend“ für etabliert, andere GTZ hingegen für kaum greifbar. Dritte lockt die Kombination mit dem „Blick“. Bei der Tamedia gilt für Zürich die Direktive, dass Anzeigen bei „News“ nur in Kombination mit dem „Tages-Anzeiger“ buchbar sind.

Hinzu kommt: Gratis wird zum Trend auch auf dem Anzeigenmarkt. Das Kleinanzeigenportal www.craigslist.com für Kostenlos-Anzeigen, das in den USA ausserordentlich erfolgreich ist, wurde hierzulande bereits geschaltet, wenngleich – noch nicht – mit grossem Erfolg.

4. Der psychologische Preis für “Gratis”
Was nichts kostet, ist nichts wert. Diese Einsicht ist weithin bekannt und verbreitet. In unserem Alltagshandeln lassen wir uns davon wenig beeinflussen. Wir können es einfach nicht fassen, dass wir oft gerade dann besonders drauf zahlen, wenn wir etwas umsonst nehmen - und noch dazu oft übers Ohr gehauen werden. Dabei MÜSSTEN wir es besser wissen.

Machen wir die Probe: Wenn Sie drei Joghurt für den Preis von zweien kriegen, greifen Sie dann zu zweien, weil Sie wissen, dass Sie sowieso nicht mehr essen mögen? Oder zu dreien und nehmen in Kauf, dass Sie eines wegwerfen? Reisen Sie lieber an einem anderen Sonntag quer durch die Schweiz oder an jenem, an dem das Bahnticket auf allen Strecken 50 CHF kostet? Und nehmen in Kauf, dass die Züge überfüllt sind…?

Dan Ariely , ein Ökonom am MIT in Cambridge (Massachusetts) erläuterte das in seinem Buchkapitel „The Cost of Zero Cost“ Schwarz auf Weiss: Der Nulltarif ist ganz schön teuer. Eigentlich ist dieses Buch gedacht für Werbeleute, es bietet aber auch jenen, die sich über den Erfolg von Gratisblättern wundern, eine Erklärung. Ariely treibt verhaltenswissenschaftliche Experimente, um zu belegen wie vorhersehbar unvernünftig wir uns oft benehmen: Nulltarif begeistert uns, ziemlich egal, was er kostet. Denn alles, was etwas koste, spreche die zutiefst menschliche Angst vor Verlust an. Hier eben: Verlust von Geld. Die andere Seite rechnen wir meistens nicht ein.

Zum Beispiel: GTZ kosten Lebenszeit. Das kann auch einen Verlust bedeuten, besonders dann, wenn wir wertvolle Lebenszeit für wertlosen Billig-Journalismus aufwenden – oder letztlich für ein Werbeumfeld. GTZ kosten zudem Sensibilität. Sie gewöhnen, wie auch das Internet, nachwachsende Generationen von klein auf daran, für Informationen nichts bezahlen zu müssen. Obwohl sie kosten.

Aber solcherlei Rechnungen stellte bislang keiner. Weder Zeitungs- und Zeitschriftenverlage noch Medienjournalisten klären über solche Zusammenhänge hinreichend auf. (Hier könnte man ein Plädoyer für mehr und für systematische Medienkritik einklinken, das aus Zeitgründen freilich unterbleiben muss).

5. Der ökologische Preis für “Gratis”
Rechnet man das Papier für die gegenwärtige Auflage der Gratispresse in der Deutschschweiz in Holz um, fallen täglich 36 Bäume für Pendlerblätter, weltweit sind es pro Tag 570.

Das erzeugt Mega-Müll. Zwischen 2002 und 2007 stieg in der Schweiz die Altpapiersammelmenge nach Angaben des Verbands der Schweizerischen Papier- und Kartonindustrie um 10 Prozent, auch wegen der wachsenden Berge Anzeigenblätter. Den einen sind sie lästig. In Sitten (Wallis) will man Edipresse und Tamedia deshalb pro Box 500 CHF in Rechnung stellen. Die beiden Medienhäuser legten Rekurs ein, der Entscheid steht aus. In Genf gab es mit beiden Unternehmen Gespräche und weitere Boxen für Altpapier - neben den Boxen fürs Frisch gedruckte.

Die anderen nehmen es gelassen oder freuen sich gar: Die Mitarbeiter von RailClean (SBB) sind unregelmässig in ihren Zügen unterwegs und entfernen die liegen gebliebenen Zeitungen, ähnlich läuft das etwa auch bei den Verkehrsbetrieben Zürich VBZ. Der Schweizer Papierverband sieht angesichts der internationalen Lage sowieso wenig Grund für Alarm, denn bislang fand sich immer ein Verwerter. In Asien boomen Altpapierfirmen; mancherorts in Europa sind Gebiete, in denen viel Altpapier anfällt, heiss umkämpft; in Kalifornien drohen Strafen bis hin zu Gefängnis allen, die mehr als 25 Zeitungen aus einer Box nehmen und sie als Altpapier verkaufen wollen...

6. Die junge Generation: trügerische Hoffnungsträger?
Allen Gratisblättern gemeinsam ist ihr überdurchschnittlich hoher Anteil an jüngeren Lesern. Metro International behauptet, 70% der Metro-Leser sei unter 45 , andere Blätter nennen vergleichbare Zahlen. Das verleitet zu der Hoffnung, diese Zielgruppe, die man für alle Zeiten verloren glaubte, doch noch heranzuziehen. Doch darauf zu setzen, ist hochriskant. Der Medienpsychologe Herman Wolswinkel befragte für seine jetzt fertig gewordene MA-thesis “New Paper Reading: The Explaining Factors of Newspaper Reading of Young Adults”, 245 junge Leute, weshalb sie Gratiszeitungen lesen – und weshalb Bezahlzeitungen. Die überwiegende Antwort: nicht, weil sie sich für Nachrichten interessieren, sondern weil sie die Zeit totschlagen wollen. Leser von Kaufzeitungen hingegen, so Wolswinkel , erklären, sie lesen, um Zeit zu gewinnen. Ähnlich argumentiert auch Philipp Ikrath von der deutsch-österreichischen Jugend-Marktforschungsagentur „TFaktory“. Zeitung lesen sei vielen Jüngeren eher peinlich, man greife nur in die Zeitungsbox, weil sie halt rum steht.

III. Ein Segen? Chancen durch die Gratistageszeitungen

• 1.GTZ können zum Befreiungsschlag für Kaufzeitungen werden.

• 2. GTZ können Lesefreude und Qualitätsbewusstsein wecken.

• 3. GTZ können Zahnrad sein in einer multimedialen Verwertungskette und hin zu inhaltlichen und werblichen Synergien.

• 4. GTZ können die Lösung des Ressourcenproblems beschleunigen (hin zum e-paper).

• 5. GTZ können den Wandel im Journalismus beschleunigen.

• 6. GTZ können zu einem ethischen Bewusstsein über Werbung beitragen.

1. GTZ können zum Befreiungsschlag für Kaufzeitungen werden.
Das Gerücht, Gratiszeitungen kannibalisieren Kaufzeitungen hält sich hartnäckig. GTZ würden die Verkaufszahlen der Kaufzeitungen reduzieren und deren Position schwächen. Damit schwächten sie zugleich deren wichtige Funktion in Demokratien. Aktuelle Studien kommen zu anderen Ergebnissen.

Der Leipziger Journalismusprofessor Michael Haller beispielsweise untersuchte Gratisblätter in 21 europäischen Ländern und stellte fest: Die Reichweite der Kaufpresse sank nicht wegen der Gratisblätter. In Deutschland, wo die Pendlerblätter bislang nicht gross Zutritt fanden, sei der Reichweiterückgang der Regionalpresse etwa so gross wie in Ländern mit starker Gratispresse.

2. GTZ können Lesefreude und Qualitätsbewusstsein wecken
Michael Haller behauptet, ob gratis oder gekauft – bei beiden entscheide die Qualität, wer überlebt. „Metro“-Chef Per Mikael Jensen behauptet, das Tauziehen zwischen Kauf- und Gratisblatt führe sogar zu einer Annäherung der Qualitätsstandards, bei der als Sieger jedenfalls „das geschriebene Wort“ feststehe. „If we are moving up in quality, and that is our intention, and the traditional market is moving slightly down in quality, we are going to meet somewhere“. Steve Auckland (Associated) hingegen prognostiziert Segmentierung statt Konvergenz: Kaufblätter nähern sich GTZ nicht an, sondern werden spezieller, qualitätsorientierter und hochpreisiger.

3. GTZ können Zahnrad sein in einer multimedialen Verwertungskette und hin zu inhaltlichen und werblichen Synergien
Hierzu zwei Beispiele: „Blick am Abend“, „Blick“, „Blick-Online-TV am Mittag“, „Online-News“ und „Sonntags-Blick“ sowie ein neu gestartetes Mobiltelefon-Angebot verknüpfen sich zu einer Verwertungskette. Das ermöglicht inhaltliche Synergien und werbliche, indem sogenannte Cross-Promotion betrieben und für das eine Medienprodukt im anderen geworben wird. Weiterer Vorteil liegt in der Risikostreuung: Ist der Markt für das eine Produkt gesättigt, hilft man sich über ein Plus auf anderen Geschäftsfeldern. Auf einem ähnlichen Weg ist die Tamedia. Unter ihrem Dach konkurrieren und kooperieren zum Beispiel die Kaufzeitung „Tages-Anzeiger“ (Tamedia) und das Gemeinschafts-Gratisblatt „news (unter anderem Tamedia). Anfang August kam online das „Newsnetz" hinzu. Das gibt es auch grenzüberschreitend: Schibsted hat am 5. Dezember 2008 eine neue Plattform geöffnet, schibstedadvertising.com, wo alle Produkte des Hauses nationalen und internationalen Kunden angeboten werden.

4. GTZ können die Lösung des Ressourcenproblems beschleunigen (hin zum e-paper)
In zehn, fünfzehn Jahren ist bei den heute besonders eifrigen Pendlerblattlesern zwischen 20 und 36 Jahren Papier völlig „out“, sie füllen dann die Fahrt zum Arbeitsplatz mit Mobile-Angeboten, erklärt Tom Rosenstiel. Die Druckausgabe los zu werden, entspricht völlig dem Interesse der Verleger, sagt der amerikanische Medienexperte. Das spare 40 Prozent der Fixkosten. Dafür sei es nur noch ein wenig zu früh. Denn: Nach wie vor machen Print-Werbung und Vertrieb 90 Prozent der Einkünfte der meisten Zeitungen aus; online sei nur ein Bruchteil dessen zu erzielen. Bis in zehn Jahren hingegen gebe es nur noch in grossen Städten gedruckte Zeitungen, in mittelgrossen Städten allenfalls alle paar Tage und vielleicht nur als Hybrid: als eine limitierte, gedruckte Version der Online-Ausgabe… Alles andere läuft elektronisch, über mobile Endgeräte verschiedener Art.
(Am Rande: Das ist auch ein Dienst für die Wälder.)

5. GTZ können den Wandel im Journalismus beschleunigen.
Die Richtung ist offen. „Die Zeiten sind nie so schwierig und nie so aufregend gewesen: „Wir experimentieren viel“, sagt Peter Hartmeier. Der Chefredaktor des „Tages-Anzeigers“ trifft damit den Nagel auf den Kopf: Gegenwärtig weiss keiner wirklich, wo das Land der Zukunft liegt. Entsprechend entgegengesetzt sind die Wege. Zwei Beispiele.

1. Die Westschweizer Tageszeitung „Le Temps“ geht in eine Internet-Offensive. Seit Ende Oktober ist ein neues Online-Portal aufgeschaltet, wo sämtliche Inhalte der gedruckten Tageszeitung sowie die Archive kostenlos verfügbar sind, online teils früher als gedruckt. Abonnenten kriegen für ihr Geld als Leckerli einen personalisierten Nachrichten-Service und Anwendungen für mobiles Internet und Telefonie hinzu. Online-Werbung soll alles finanzieren. Ein Risiko vor allem dann, wenn man Qualitätsjournalismus machen möchte: Bislang ist kein Modell bekannt, wie sich der über Online-Angebote finanzieren liesse.

In die Gegenrichtung fährt ein Projekt in Frankreich. Redaktoren, die bei der Tageszeitung „Le Monde“ Kollegen waren, gründeten die Onlinezeitung „Mediapart“ . Sie produziert täglich drei „Ausgaben“, bietet Hintergrund wie eine klassische Vollzeitung und kostet. Für 9 Euro monatlich wird man sowohl Leser also auch Mitglied in einem virtuellen Debattier-Klub, angelehnt an die Klubs der Französischen Revolution, die Brutstätten der demokratischen Öffentlichkeit bildeten.

6. GTZ können zu einem ethischen Bewusstsein über Werbung beitragen.
Das andere Pendlerblatt „Heute“, jenes in Österreich, veröffentlichte bedenkenlos private Details und Auszüge aus Arztgesprächen von Natascha Kampusch. Der verantwortliche Journalist rechtfertigte, die Wahrheit könne nicht unethisch sein. In solcherlei Fällen sitzen Anzeigenkunden auch am „Ethik-Knopf“: Welchem Markenartikler kann ein Werbeumfeld gefallen, wo auf niedrigstem Niveau ein Sensationsjournalismus betrieben wird, gegen den in diesem Fall nun Kampuschs Anwalt Klage einreichte? Die Frage, ob buchen oder nicht buchen, kann ethische Aspekte haben und

IV. FAZIT

A. Die Gratispresse ist nur ein Phänomen in einem umfassenden Veränderungsprozess. Kern ist die Streuung der Aufmerksamkeit auf vielerlei Medien und die Verknappung der Ressourcen – der finanziellen wie der Rohstoff-Ressourcen.

B. Als wirtschaftliches Modell hat sie ihren Zenit überschritten. International ist das bereits unübersehbar. Diese Tendenz wird sich durch die aktuellen konjunkturellen Entwicklungen beschleunigen.

C. Als strategische Waffe, etwa im Falle von „news“, hat sie noch nicht ausgedient.

D. Auch als Kraft, durch die sich Journalismus verändert, wird sie weiter wirken: Ob sich Journalismus dadurch letztlich eher verwässert oder verbessert und ob diese Veränderung mittelbar oder unmittelbar geschieht, wird sich zeigen.

E. Wir sind gefragt. In einer Journalismuskultur, in der der Medienjournalismus ziemlich am Boden liegt (das gilt zumindest für den gesamten deutschsprachigen Raum) müssen wir ganz besonders hinschauen. Wer, wenn nicht wir, kann da noch Sorge tragen, dass die Verknappung der finanziellen und der Rohstoff-Ressourcen nicht zu einer Verknappung der Ressourcen für journalistische Qualität führt, die unsere demokratische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert! Wir müssen uns selbst aufklären und uns dessen bewusst werden. Und wir müssen dafür sorgen, dass darauf aufmerksam gemacht wird.

Ein Teil der heutigen Probleme ist hausgemacht: Viele Medienhäuser (und ihre Redaktionen) haben es versäumt, ihren Publika zu erzählen, warum Qualität etwas kostet und was der wirkliche Preis für Gratispresse sein KANN. Wer an der Demokratie interessiert ist, MUSS darauf hinweisen.

Die Kontroverse zwischen Gratis- und Kaufzeitungen wird in eine Diskussion über unter¬schiedliche Printmedien-Konzepte münden. Die zentrale Frage wird lauten, wie die Zeitungsbranche künftig ihre Anziehungskraft auf die Leser ausüben kann in einer Welt, in der Internet, Fernsehen, lokale Netze, PDAs, Mobiltelefone und iPods in einer drahtlosen Breit¬band¬umgebung zusammen¬fliessen - ein Fluss der Zeit, den keiner von uns stoppen kann, mit dem wir aber zurecht kommen können und müssen.

Sicher ist eigentlich nur eines: Die Zukunft ist ungewiss - für die traditionelle Zeitungsbranche wie für die Gratis-Marktneulinge. Segen oder Fluch? Nun. Sicher eine Herausforderung.


Dr. Marlis Prinzing 

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BEITRAG: Zenit der Gratis-Pendlerzeitungen ist überschritten

- Die Referentinnen und Referenten am Podiumsgespräch